Ludwig van Beethoven „Für Elise“, eine Beobachtung, eine Annahme, eine Untersuchung

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Vorwort:

Den folgenden Blogpost schickte ich nach Veröffentlichung an Dr. Jochen Reutter, den für die von mir stark genutzten Ausgaben sehr geschätzten Chefredakteur der Wiener Urtext Edition; er gab  seine Antwort auf meine Zusendung freundlicherweise frei, sodaß ich sie hier diesem Text anhängen kann; dafür bedanke ich mich an dieser Stelle herzlich.

 

Ludwig van Beethoven „Für Elise“, eine Beobachtung, eine Annahme, eine Untersuchung

„Für Elise“ ist eines der bekanntesten Klavierstücke überhaupt. Es gibt zum Beispiel unzählige Warteschleifen bei Telefondiensten, die den Anrufenden diese Melodie, nämlich die ersten etwa 22 Takten des Stückes, in Dauerschleife wiedergeben. Die restlichen 81 Takte des Werkes werden meist vergessen.

Was hat es mit dieser Bagatelle auf sich, die vor allem Klavierschüler weltweit erlernen?

Die Musikwissenschaft hat sich in der Erforschung der Umstände, unter denen Beethoven das Werk schrieb, sehr verdient gemacht. Das beginnt damit, dass einer der ersten Beethovenforscher Ludwig Nohl das Werk im Nachlass Therese von Droßdicks entdeckte und 1867 erstmals veröffentlichte. Manches lässt sich in der wunderbar aufbereiteten digitalen Bibliothek des Beethovenhaus Bonn nachlesen: so etwa, dass Beethoven das Werk am 27. April, wie recherchiert wurde, im Jahr 1810 schrieb. Auch die Skizze zu dem Werk lässt sich einsehen. Nur, wem Beethoven das Stück widmete, darin sind sich die Forscher und Forscherinnen bis heute keineswegs einig. Denn eine „Elise“ kannte man zunächst im engeren Kreis Beethovens nicht. Auch hier wurde man in den letzten Jahren fündig und förderte die eine oder andere „Elise“ in Beethovens Umfeld zutage, auf die die Widmung zutreffen könnte. Ich folge hier einem anderen Erzählstrang, dem des Beethovenforschers Max Unger, der in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Therese Malfatti als Adressatin der kleinen Bagatelle ausmachte. Therese Malfatti war eine blutjunge siebzehnjährige Klavierschülerin Beethovens, die Beethoven im Frühjahr 1810 einige Wochen stark umwarb und sich wohl tatsächlich mit Heiratsabsichten trug, hätte die Familie Thereses diese nicht vereitelt. Warum ich Therese für die Widmungsträgerin halte, werde ich in der Folge genauer ausführen. Ludwig Nohl, der Entdecker des Stücks, hielt wohl als einziger Wissenschafter jemals das Autograph in Händen, das seither verschollen ist. Unger meint, Nohl hätte Beethovens Schrift falsch entziffert und „Elise“ statt „Therese“ gelesen. Wer jemals Beethovens Schrift vor sich hatte – das gilt im übrigen auch für seine Notenschrift -, wird verstehen, dass diese Annahme durchaus Berechtigung hat 

Die Vorgeschichte:

Beethovens, wie man jetzt inzwischen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annimmt, „unsterbliche Geliebte“ Josephine von Stackelmann, verwitwete von Deym, geborene Brunsvik, hatte im Februar 1810 erneut geheiratet, jenen Herrn von Stackelmann, dessen uneheliches Kind sie im Winter 1809 im geheimen zur Welt gebracht hatte (und dessen Geburtsdatum später in das Jahr 1810 datiert wurde). Womöglich hat diese Eheschließung den neununddreißigjährigen Beethoven dazu bewogen, eine eigene Heirat bewusst voranzutreiben. Er ließ sich also von seinem Freund Ignaz von Gleichenstein, der Thereses Schwester umwarb und in der Folge heiratete, in die Familie Malfatti einführen und begann, die 17jährige Therese im Klavierspiel zu unterweisen. Briefe belegen auch, dass er sich in dieser Zeit sehr um sein äußeres Erscheinungsbild sorgte: so erwarb er unter anderem neue Tücher und Hemden, um sorgsam gekleidet aufzutreten. Beethoven bewegte sich auf Freiersfüßen.

Zurück zu besagter Bagatelle,

die laut Erstausgabe im Autographen folgenden Zusatz trug „Für Elise am 27. April zur Erinnerung von L. v. Bthvn“: was mag an jenem „27. April“, der von der Wissenschaft in das Jahr 1810 datiert wurde, geschehen sein? Warum halte ich an Max Ungers bald hundertjähriger Expertise fest und sehe in Therese die Adressatin des Stückes? 

Tatsächlich habe ich dieses Werk Beethovens lange nicht beachtet, da es im Anfängerklavierunterricht und von Klavierschülern ungemein und über die Maßen zum Teil sehr zum Teil weniger erfolgreich strapaziert wird, auch wenn hier fast ausschließlich die 22 Anfangstakte erlernt werden, fast niemals das gesamte Werk. Dennoch hielt ich es lange mit der allgemein verbreiteten Meinung in Fachkreisen, es handle sich hier um ein etwas belangloses von Beethoven nicht besonders sorgsam ausgearbeitetes Stücklein, das entsprechend belächelt wurde; so stieß ich mich bereits an jenen Anfangstakten jedesmal am D der Oberstimme im Takt 7. In der Ausgabe von Nohl findet sich hier zwar ein E, das also hinsichtlich einer korrekten Stimmführung quasi „eingeebnet“ wurde, die Urtextausgaben haben sich hier jedoch für D entschieden, da in der heute noch erhaltenen Skizze des Werks ein D steht und auch in der von Nohl editierten Erstausgabe, die sich am heute verschollenen Autographen orientierte, in sämtlichen Parallelstellen ein D geschrieben steht. 

Warum irritiert mich dieses D?

Es handelt sich hier um die Septime des Dominantseptakkordes der Dominante E zur Grundtonart a Moll. Eine solche Sept wird nach jahrhundertealten Regeln in der Stimmführung für gewöhnlich auf eine Art gelöst: nämlich fallend und in die Terz des nächsten Akkordes, also D1 ins C1 der Grundtonart a-Moll. Beethoven löst jedoch hier diese Sept nicht; oder anders, er führt das D1 in das C2, also in die obere Septime. Das Fehlen der Auflösung macht hinsichtlich der Stimmführung keinen Sinn, es klingt just falsch (wenn wir uns nicht bereits dermaßen daran gewöhnt hätten). Er könnte das D1 problemlos ins C1 lösen, wenn er das gewollt hätte, es gäbe hier verschiedene Varianten, die offensichtliche wäre das zugleich angeschlagene Intervall C1-A1 auf die erste Achtel des folgenden Taktes. Beethoven sucht diese Lösung nicht. Er könnte auch, wie es Nohl in seiner Erstausgabe hielt, ein E1 anstatt des D1 setzen, um überhaupt die Septime zu umgehen. Dennoch lässt er just das D ungelöst stehen. Dieser Dominantseptakkord wird – hörbar – in der Stimmführung nicht korrekt behandelt. Ich habe viele Stellen bei Beethoven durchgesehen und keine analoge Vorgangsweise finden können. Man weiß von Beethoven, dass er die strengen Stimmführungsregeln nicht immer streng befolgte: ganz berühmt sind hier zum Beispiel jene Quintparallelen im Streichquartett, die Beethovens Schüler Ries Beethoven gegenüber anspricht. 

Erstaunlicherweise hat sich jedoch noch niemand in der Literatur dieser ungelösten Septime angenommen, obwohl sie sicher nicht nur für meine Ohren ungelöst bleibt. Das reizte mich sehr. Dadurch, dass Beethoven die Septime D in die Septime C führt, ergibt sich zum Abschluss der Phrase ein sehr charakteristisches Seufzermotiv, das heraussticht und somit die Aufmerksamkeit auf sich zieht: was hatte das zu bedeuten? D-C? Unernst spielte ich mit den Buchstaben und kam auf d.c.? (d.c. ist z.B. die übliche Anzeichnung für ein da capo al fine, jene Bezeichnung, die angibt, dass ein bestimmter Teil des Stückes wiederholt werden sollte). Warum würde Beethoven hier jedoch „d.c.“ in Töne verpacken wollen? Das machte nicht unbedingt Sinn. Nur, ging es hier vielleicht tatsächlich um Buchstaben?  stand D1 für den Buchstaben D?…dann könnte es womöglich auch T sein? Oder ist es einfach ein Spiel, nämlich die komplementäre Umkehr der Töne D-C aus den Takten 1 und 5? Oder ging es ihm um das H? Sehr spannend. 

Also begann ich mir das vermeintlich belanglose Stücklein, diese Bagatelle, näher anzusehen und fand mehr Eigentümliches.

Da ist zum Beispiel dieser enorme Überhang an den Tönen E im Thema: zunächst das für das Stück ganz charakteristische jedoch musikalisch eher behäbige und eigentlich uninteressante Motiv E-Dis-E-Dis-E (Takt 1 und 5 jeweils mit Auftakt, bzw in allen Wiederholungen des Themas bis auf Takt 82), oder Dis-E-Dis-E-Dis in T13/14 und T14/15 bzw alle Wiederholungen des Themas), das Beethoven fast penetrant immer und immer wieder anbringt. Es klingt wie ein ausgeleierter Triller, also nicht gerade musikalisch attraktiv und würde schon gar nicht als geniale Eingebung durchgehen. Ich befand, dass es ein für Beethovens Verhältnisse ziemlich geistloser Einfall wäre, wäre es eben nichts als diese eine Tonfolge. 

Sollte es nicht eher ein Spaß sein? Da musste mehr dahinterstecken, wie auch bei der ungelösten Septime D. Oder hatte Beethoven ganz entgegen seinem sonstige kompositorischen Anspruch hier tatsächlich einfach Töne lose aneinandergereiht?

E-Dis-E-Dis-E, oder Mi-Re-Mi-Re-Mi, oder E-Es-E-Es-E…oder…E-S-E oder [t(h)]-E-(r)-E-(s)-E

Hatte das niemand vor mir gelesen? Das schien mir nicht nur unverständlich sondern vor allem unmöglich. Also nahm ich mir die diversen Artikel vor, die zu „Für Elise“ veröffentlicht worden waren. Ich entdeckte den sehr überzeugenden Erzählstrang Ungers, den ich bereits oben erwähnt hatte und den ich aufgrund meiner Entdeckung auch gleich stützen konnte. Dann gab es weitere Stränge, die ein Wunderkind namens Elise oder die Sängerin Elisabeth Röckel in Beethovens Umfeld fanden. Etc. Etc. Dann wurde in einem Artikel der Organist Johannes Quack und seine Annahme geschildert: Quack ging als einziger auf die Tonfolge des charakteristischen Motivs ein und schrieb sie einigen Buchstaben des Namens Elise zu.

Doch „Elise“ ist offensichtlich falsch, es muss „Therese“ sein.

Ich lese den Namen in Takt 14/15 (D-is)-E-(RE)-E-(S)-E und in Takt 1 und 5 eine Abspaltung davon. Oder eben „E-S-E“ als Teil von Therese. Offensichtlich sind die drei E.

T12/13 sind besonders interessant: hier bleiben im Rahmen einer Abspaltung bzw. einer harmonischen und motivischen Verdichtung des Materials überhaupt nur noch die Töne E in verschiedener Oktavabfolge übrig: lassen Sie uns nicht vergessen, auch Beethoven trägt drei E im Namen, auch wenn er sich privat meist nur mit den Konsonanten des Nachnamens unterschrieb „Bthvn“, oder eben mit dem ganzen Nachnamen, übrigens nicht mit Ludwig. („Ludwig van Beethoven“ findet sich als Signatur vor allem in der nicht privaten Korrespondenz.)

Es wird deutlich, dass es nicht nur um Therese geht; es kommt offensichtlich zur Verschränkung der Namen Therese und Beethoven. 

Warum steht die Bagatelle in a Moll? MAlfAtti. Warum gibt es in Takt 24 eine Modulation nach F-Dur? ja, Sie tippen richtig, MalFatti und Beethoven, denn auch hier wird das B exponiert eingewoben in den Verlauf des F-Dur Teils, nämlich gleich in T22, wieder geht es um eine Septime eines Dominantseptakkordes, als B-Septime der Dominante C. Ein Zufall? Ja, kann natürlich sein. Hier ein weiterer Zufall: warum finden wir just im Takt 71 den markanten harmonischen Schritt von a nach B? ein Hinweis auf Beethoven. Und von B nach h? BeetHoven! Wie passt der drei Achtel Takt dazu? Womöglich, weil Beethoven, Therese und Malfatti jeweils drei Silben haben? Warum der Auftakt? Weil „Therese“ auf die zweite Silbe betont ist? Sind das alles Zufälle?

Sollte hier der Komponist nur lose Bezüge zu den Namen der beiden hergestellt haben? Nun setzen, nach den zuvor dargestellten Fakten, Mutmaßungen ein:

auch wenn es sich hier offensichtlich um eine Spielerei Beethovens handelt, nehme ich nicht an, dass es hier nur um lose Bezüge von aneinandergereihten Tonnamen geht. Ich denke, Beethoven spielt hier vielmehr halbernst auf Erlebtes oder Anekdotisches an. Womöglich hat er hier eine technische Übung an Therese verpackt (E-Dis-E-Dis-E als Übung für die Finger 4 und 5 der rechten Hand? bekanntlich die schwächeren Finger)? Womöglich eine Improvisation mit Therese? vermutlich wurde, wenn man Beethovens Absichten kennt, im Unterricht geredet, gescherzt, geflirtet? Sind jene klar voneinander abgesetzten Zweierverbindungen der Sechzehntel in Takt 13/14, die in unterschiedlichen Systemen notiert und bei anderer Wiederholung sogar mit Bindebogen versehen werden, gar etwa ein Übergreifen der Hand Beethovens mit jener Thereses? Warum bei fast allen Interpretationen hier über diese, für den vermeintlich belanglosen Inhalt komplizierte Notierung, unbedarft schnell darüber hinweg gespielt wird, ist schwer nachvollziehbar. Hatte er es für den Klavierunterricht zur Unterhaltung und Umschmeichlung Thereses verfasst und es ihr dann als Erinnerung im Nachhinein zugesandt? Immerhin schreibt Beethoven an Therese im Mai 1810 (Brief Nr 442 in der Henle Gesamtausgabe der „Beethoven Briefe“ Bd 2, Seite 122; ich gehe davon aus, dass mit diesem Schreiben das hier beschriebene Werk übersandt wurde): 

„“[…] Welchen Unterschied werden Sie gefunden haben in der Behandlung des an einem Abend erfundenen Themas und so wie ich es ihnen leztlich [sic] niedergeschrieben habe, erklären sie sich das selbst, doch nehmen sie ja den Punsch nicht zu Hülfe- […]“. 

Haben Beethoven und Therese hier gemeinsam an einem Thema improvisiert und herumgealbert (der Hinweis, sie solle keinen Punsch hinzunehmen, lässt darauf schließen…), nun hat er ihr seine ausgearbeitete Version zukommen lassen? Hat Beethoven hier an Therese ein kleines musikalisches Rätsel mit Augenzwinkern verfasst? vielleicht sollte die melancholische Grundstimmung Beethovens Sehnen nach Therese widerspiegeln? oder, oder…

Tatsächlich scheint das Thema von „Für Elise“ bereits in einem früheren Skizzenheft auf, das in das Jahr 1808 datiert wird und vor allem der 6. Symphonie gewidmet ist. Ich habe die online einsehbaren Bilder des Autographen hierfür studiert. Offensichtlich ist das Thema „Für Elise“ in  einem anderen Schriftzug notiert, dickere Feder als die übrigen Eintragungen des Blattes. Doch findet sich dickerer Federstrich durchaus auch auf anderen Blättern dieser Sammlung (unter Landsberg 10 zusammengefasst, Skizzen die der Jahre 1801-1826 zeigen). Darüberhinaus fällt auf, dass die direkt umgebenden Zeilen, die offensichtlich inhaltlich nicht mit dem Thema in a-Moll zusammenhängen, anders gearbeitet sind: Bleistift mit Feder nachgezogen (Skizzenblatt der ersten Skizze des Themas in der Staatsbibliothek Berlin) während das a-Moll Thema ausschließlich mit Feder notiert ist. Leider fand ich in den entsprechenden Unterlagen keinen Hinweis darauf, ob Schriftzüge oder Tinte näher untersucht wurden. Ich werde dieser Sachlage jedoch weiter nachgehen. Da wir von dem Skizzenblatt aus dem Jahr 1810 (Skizzenblatt in der digitalen Sammlung des Beethovenhaus-Bonn) wissen, dass es 1822 nochmals überarbeitet wurde (blauer Buntstift), wissen wir auch, dass die Skizzenblätter/-bücher durchaus präsent in Beethovens Arbeitsraum waren, also mehrfach verwertet wurden, zumal Papier ein teures Gut war. Kann es nicht sein, dass Beethoven eineinhalb Jahre später das Skizzenbuch aus dem Jahr 1808 offen am Instrument liegen hatte und schnell mal an einer noch unbeschriebenen Stelle das Thema notierte? Auch sonst geht es in Beethovens Skizzenbüchern durchaus „drunter und drüber“ im wahrsten Sinne des Wortes. Oder hatte er sich anlässlich seiner Schwärmerei für Therese des Skizzenblattes erinnert und weiter ausgeformt? Beides wäre möglich, dennoch tendiere ich zur ersten Annahme.

Erst durch die Untersuchungen dieser einfachen Bagatelle in a wurde mir bewusst, warum Beethoven in der „Großen Sonate für das Hammerklavier“ just B -Dur und h-Moll einander gegenüberstellte: Bthvn.

Der Sonate op. 106 wird im übrigen mein nächster ausführlicher Blogtext gewidmet sein.

© Gerda Struhal, 17. Oktober 2020 (Detaillierte Literaturliste wird nachgereicht)

 

Antwort von Dr. Jochen Reutter, Chefredakteur der Wiener Urtext Edition, am 18.Oktober 2020

“Sehr geehrte Frau Struhal,
danke für Ihre Nachricht und den Link. Ihren Blog habe ich mit großem Interesse gelesen. Parallelen zwischen Tonbuchstaben und Wortbuchstaben herzustellen, hat es in der musikhistorischen Forschung immer wieder gegeben, wobei die Probleme immer dort beginnen, wo die Wortbuchstaben keine Äquivalente im Vorrat der Tonbuchstaben haben. Dabei ist die Darstellung eines „S“ durch den Ton „Es“ (und eventuell in diesem Rahmen noch die enharmonische Umdeutung eines „dis“ zu „es“) noch das geringste Problem. Leider lassen sich nicht alle Worte und Namen so leicht in Tonbuchstaben übertragen wie B-A-C-H. Aber der Ansatz hat lange und vielfältige Tradition.
Was aber wirklich für Therese von Droßdick, geb. Malfatti, spricht, ist die Tatsache, dass sich das Manuskript tatsächlich längere Zeit im Besitz der Therese Droßdick befand, und man bislang auf keine Elise gestoßen ist, die dieses Manuskript der Therese von Droßdick in der Tat geschenkt haben könnte. Dass Teile des Widmungstitels möglicherweise eine Fälschung sein könnten, ist zwar nicht unumstößlich erwiesen, zumindest aber eine weitere Hypothese (vgl. dazu die Aufsätze von Michael Lorenz und Jürgen May in den Bonner Beethoven-Studien, Bd. 9 und Bd. 11); diese würde freilich voraussetzen, dass Nohl – euphemistisch gesagt – nicht in allen Details seiner Informationen den Tatsachen entsprochen hätte, auch das ist wiederum nicht ohne Weiteres glaubwürdig, also bleibt es bei der Hypothese. Ich habe das in meinem Vorwort zu der neuen Einzelausgabe in der Wiener Urtext Edition, die kurz vor Abschluss der Korrekturphase steht und vielleicht noch vor Weihnachten 2020 erscheinen wird, noch einmal etwas präzisiert.
Lange dachte ich aber, dass ihr Artikel auf Höchste verwundbar ist, wären Sie nicht in Ihrem letzten Absatz auf die Skizze im Skizzenbuch der Pastoral-Sinfonie eingegangen. Denn der dort skizzierte Einfall des Themas wurde ja bereits zwei Jahre vor Beethovens Bekanntwerden mit der Familie Malfatti niedergeschrieben. Mit Ihrer Frage nach dem Zeitpunkt des Eintrags und möglicherweise abweichenden schriftchronologischen Eigenschaften haben Sie tatsächlich eine Spur aufgezeigt, denen die Kenner von Beethovens Handschrift, seiner Handschrift-Typen (Konzeptschrift/Reinschrift und Zwischenformen) sowie der verwendeten Tinten und Schreibmaterialien noch einmal gründlich nachgehen sollten. Würden Ihre Vermutungen bestätigt, dann erführe Ihre Hypothese eine starke Stütze. Vielleicht sollten Sie anregen, das dem wirklich noch einmal Spezialisten nachgehen. Ihre Beobachtungen und die daraus resultierenden Fragen sind keineswegs abwegig!
Ansonsten unterscheiden wir uns gar nicht so sehr in der Gesamtbewertung, nur dass ich mich im Rahmen einer Urtext-Ausgabe weitestgehend auf die nachweisbaren Fakten und die plausiblen Erkenntnisse der jüngsten Forschung beziehen muss. Alles weitere lässt dann Freiraum für Deutungsversuche wie den Ihrigen. Sie dürfen gerne auf meine Arbeit und die bevorstehende neue Einzelausgabe in der Wiener Urtext Edition (sie erhält übrigens die Verlagsnummer UT 50425) hinweisen.
Herzliche Grüße
Dr. Jochen Reutter”

 

 

  Gerda   Posted in: Blog