“Versuch eines Zuganges zur Interpretation”

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Text von und Korrespondenz mit Prof. em. Günter Pichler, Primarius des Alban Berg Quartetts, Dirigent und jahrzehntelang Professor für Violine am Institut 5, jetzt Fritz Kreisler Institut der MDW.

 

Im Rahmen meines Klavierunterrichts an der MDW verweise ich bei Bedarf gerne auf Aufnahmen des ABQ, wie das Alban Berg Quartett kurz genannt wird.

Das ABQ war jahrzehntelang eines der weltweit führenden Streichquartette, ein Umstand, der allen Connaisseurs dieser Sparte, und weit darüber hinaus, hinreichend bekannt ist,  auch wenn das Quartett 2008 seine aktive Tätigkeit nach achtunddreißig Jahren einstellte. Das ABQ war zuvor schon längst zur Legende geworden. Unzählige Einspielungen zeugen davon. Da wären im Jahr 2020 zum Beispiel sämtliche Streichquartette Ludwig van Beethovens zu nennen, eine Referenzaufnahme (Besetzung: Günter Pichler, Gerhard Schulz, Thomas Kakuska, Valentin Erben). Da wären im selben Atemzug auch sämtliche Quartette Franz Schuberts zu nennen (inklusive seines Streichquintetts), die Streichquartette Bartoks, Mozarts und Haydns und viele, viele mehr. 

Für mich war dieses Ensemble einer der großen musikalischen Leitfäden meiner Studienzeit und ist es heute unvermindert. 

  • Zum einen steht die Streichquartettliteratur, z.B. neben der Orchesterliteratur, für eine Pianistin auch im zentralen Fokus des Repertoirestudiums: hier ist u.a. die Beschäftigung mit den Streichquartetten Beethovens naturgemäß für das Studium der Klaviersonaten naheliegend; wie kann ein vierstimmiger Satz klingen? Wie bereitet der Komponist seine Ideen für vier Streichinstrumente auf? etc. etc.
  • Zum anderen waren die regelmäßigen Konzerte des ABQ im Rahmen seines jahrzehntelangen Abonnements im Wiener Konzerthaus  durchwegs ein Höhepunkt an sensibler transparenter Darstellung, instrumentaler Präzision, hoch expressivem Wohlklang und weitreichenden musikalischen Einsichten. Man könnte hier noch viele weitere Aspekte nennen.

Im Rahmen meiner Ausbildung an der MDW hatte ich die Möglichkeit, unter der Supervision Prof. Günter Pichlers, dem Gründer und Primarius des ABQ, mit Studierenden seiner Klasse, so mit der wunderbaren Geigerin Bojidara Kouzmanova, Kammermusik zu musizieren und das entsprechende Repertoire zu erarbeiten. Das war hochinteressant.

In diesem Kontext ergab sich 1998 auch die genannte Korrespondenz, die ich hier mit dem Einverständnis von Günter Pichler veröffentliche. 

Seine Darstellung „eines Zuganges zur Interpretation” ist für mich heute gleichermaßen gültig; eigentlich noch “gültiger” als damals, da ich mit meiner inzwischen gewonnenen Erfahrung noch besser zuordnen kann, was Günter Pichler hier ansprach, wie weit er in die musikalische Materie eingedrungen war, wie zentral jene Punkte in der Interpretation sind, die er hier ansprach, und wie eng sein Zugang zur Interpretation mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung in internationaler Konzerttätigkeit auf höchstem Niveau verknüpft war: das scheinbar mühelos freie unvermittelte Musizieren, während die komplexe Struktur des Werkes unvermindert klar und präzise zu Gehör kam, war eine der zahlreichen typischen, gar nicht selbstverständlichen und deshalb sehr beeindruckenden Konstanten der Wiedergaben der vier Musiker des ABQ. 

Die Korrespondenz umfasst den genannten Text Günter Pichlers vom 4. Jänner 1998 und meine Antwort darauf vom 10.  Jänner 1998.

Im Anschluss an die Abbildungen der Faxseiten findet sich der Text nochmals, dann zur besseren Lesbarkeit abgetippt, während die ergänzenden handschriftlichen Notizen kursiv gleich in die entsprechenden Stellen des Textes eingearbeitet wurden.


 

 

Hier meine Antwort übersandt ebenfalls per Fax vom 10. Jänner 1998:

„Versuch eines Zuganges zur Interpretation

Voraussetzung: 

  • Kenntnis des Stiles, der allgemeinen Regeln der Zeit (besonders wichtig für die Musik des 18. Jh. und 1. Hälfte 19. Jh.) 
  • Literatur wie zum Beispiel Leopold Mozart, Mertin, Harnoncourt, Charles Rosen, usw.… Brendel…
  • Kenntnis möglichst viele Werke des jeweiligen Meisters. 

Wichtig: 

wie viele Informationen (Dynamik, Tempo) gibt der Komponist im allgemeinen, bzw. in der betreffenden Periode? Demnach müssen mehr oder weniger Bestimmungen und Ergänzungen selbst vorgenommen werden. 

  • Interpretationsvergleiche (Konzerte, CDs) (kann je nach Werk in einem beliebigen Stadium geschehen) 
  • Feststellen und verbales formulieren des Grundcharakters (der Grundcharaktere) des Satzes (Stückes) 
  • Einteilung in Perioden – wie lang soll beziehungsweise kann ein Bogen gespannt werden (4 Takte, 8 Takte usw.)? Ist die Idealvorstellung (z. B. 8 Takte) praktisch realisierbar? 
  • Festlegen des Studientempos, des endgültigen (??) Tempos nach einigen Aufführungen.

Dynamik besonders in der Klassik, wo Dynamik oft sehr spärlich notiert ist: 

  • Festlegen der Schwerpunkte innerhalb einer Periode, 
  • Eintragen der zu ergänzenden Dynamik (vor allem crescendo, diminuendo), 
  • Vermeiden einer flachen Dynamik (sie kommt in der Wiener Klassik/Romantik kaum vor). 
  • Für volksliedhafte Melodien, wie z.B. Mozart Klavierkonzert K595 letzter Satz, schwebende Dynamik verwenden, das heißt, dynamische Veränderungen, die vom Zuhörer nicht als solche erkannt werden. 

Agogik:

  • Welche unbemerkbaren oder bemerkbaren agogischen Veränderungen sind innerhalb einer Periode angebracht, bzw. sind angebracht oder nötig, um Teile miteinander zu verbinden (Übergänge)? 
  • Besonders in der Klassik ist es wichtig, immer wieder genau ins Grundtempo zurückzukehren, wobei es (z.B. bei Schubert) verschiedene Grundtempi für verschiedene Teile bzw. Themen eines Satzes geben kann.
  • Diverses
  • Das Erstellen eines genauen Konzeptes und dessen Realisation hemmt die Phantasie beim Konzertieren nicht. Die Realisation des Konzeptes in Vollkommenheit ist so schwierig, daß ein Abweichen, der jeweiligen Abendstimmung folgend, leicht scheint. Das Grundkonzept wird ein Künstler nicht so rasch über Bord werfen. Spontane Veränderungen finden viel mehr im Detail, und da besonders in lyrischen, romantischen Sätzen, statt.
  • Ein Künstler muß genau wissen, was er tut, das heißt, ob er den Charakter , das von ihm gewählte Tempo und die Dynamik, die er sich vorgenommen hat, tatsächlich spielt oder gespielt hat.
  • Je höher das Können, je genauer die Selbstbeobachtung im allgemeinen (das Ohr ist die letzte Prüfungsinstanz) desto mehr Phantasie und Kreativität entsteht beim Konzertieren, desto mehr Entrücktheit kann sich der Künstler erlauben.
  • Es soll eine ideale Balance zwischen Verstand und Gefühl erreicht werden.
  • Bei Komponisten, die großen Wert auf das „richtige Tempo“ legen (z.B. Beethoven, Bartòk), sollte versucht werden, der Idee so nahe wie möglich zu kommen, zumindest aber zu verstehen, welchen Charakter der Komponist mit der betreffenden Tempoangabe erreichen wollte.
  • Drei Lehrer können dem Künstler stets zur Verfügung stehen: 
      • der Spiegel (Videokamera) schöne Bewegungen sind richtige Bewegungen 
      • das Metronom (Achtung auf intelligente Benutzung: für nötige Atempausen Leerschläge einschieben, im Prinzip stets große Werte wählen = niedrige Zahlen einstellen)
      • die Tonbandaufnahme, verschiedene Methoden benutzen – abwechselnd Werke oder Sätze im ganzen oder Details aufnehmen, je nach Stand des Könnens, des Bedarfs

Eine Interpretation kann nur bis zu einem gewissen Grad zu Hause/in Proben erarbeitet werden. Die wichtige Weiterentwicklung entsteht durch Kombination von Konzertieren + Weiterarbeiten/proben

Kleine Bemerkung zum künstlerischen Üben:

  • Tempo und Ausdruck so wenig wie möglich reduzieren.
  • Bei technisch anspruchsvollen Stücken ganz bewußt zum technischen Üben übergehen.
  • Wenn langsam geübt wird, den Ausdruck beibehalten und das Tempo nicht verzerren.
  • Sollte eine weitere Temporeduktion notwendig sein, dann zum technischen Üben übergehen.

Diktat, 4.1.1998“ 

© Günter Pichler, 1998

Antwort vom 10.1.1998:

Lieber Günther! 

Vielen Dank für dein Fax. 

Entschuldige, daß ich verspätet darauf antworte. Grund dafür ist, dass ich zuerst darüber nachdenken wollte. 

Deiner denkbar umfassenden Gedankensammlung kann ich, wenn überhaupt, nur zwei Punkte hinzufügen; einerseits (du hast diesen Punkt letzten Dienstag erwähnt) einen Zusatz zu „wie viele Informationen gibt der Komponist…?“: 

Besonderheiten im Notentext (Urtext!) müssen aufgegriffen, im Faksimile/Autographen nachgelesen und im Verlaufe eines Satzes/Stückes verfolgt und verglichen werden, um sie somit sinngerecht in der Interpretation verwirklichen zu können. 

Andererseits: formaler Aufbau? Besonderheiten (im Hinblick auf den großen Zusammenhang) und ihr Sinn,…? 

Du hast mich gefragt, ob ich zu diesem Thema im Allgemeinen noch Gedanken hätte. Da musste ich eben nachdenken. 

Ich habe für mich noch keine wirklichen Prinzipien/Leitlinien (zumindest keine so klar formulierten, praktisch sinnvollen) für einen generellen Zugang zur Interpretation gefunden. Ich habe natürlich auf verschiedene Arten probiert, meine Ideen und Vorstellungen umzusetzen, musste aber oft, auch proportional zu meiner Entwicklung, erkennen, daß entweder die Arbeitsweise oder die Zielvorstellung oder sogar beides nicht befriedigend waren; musste also die Leitlinien, die ich hatte entweder verwerfen oder zumindest revidieren. Was ich damit sagen will, ist: ich bin noch auf der Suche. 

Natürlich habe ich von meinen diversen Lehrern verschiedenste Ratschläge bekommen, die alle für sich genommen sehr sinnvoll waren, die mir weitergeholfen haben – und teilweise jetzt aus der Erinnerung für mich immer wichtiger werden –; und trotzdem, sie passen dann manchmal doch nicht genau so wie man sie bräuchte. 

Klarerweise resultiert mein Mann die an interpretatorischen Leitlinien auch aus fehlender Erfahrung mit der Materie bzw. mit mir selbst und auch deswegen bin ich sehr froh über die Möglichkeiten, die du mir gezeigt hast. 

Im Augenblick hadere ich zum Teil mit Grundfragen der Interpretation (z.B..…Wie kommt es, daß extreme divergierende Interpretationen ein und desselben Werkes trotzdem in derselben Weise gültig sind?… 

Wie weit darf oder muss man “zwischen den Zeilen eines Notentextes lesen“, wie weit darf oder muss man sich persönlich einbringen, um Musik lebendig zu machen? Was ist im Extremfall richtiger: Regeln, denen man vertraut, zu befolgen oder auf die eigene Empfindung zu achten, die den Regeln vielleicht widerspricht? 

Angenommen ein bestimmter Stil ist einem Interpreten eher fremd, soll er es – kann er es überhaupt- „richtig“ empfinden „lernen“ oder soll er sich auf eigene Art und Weise ganz frei nähern?…

Wann kann man eigentlich von einer gelungenen Interpretation sprechen?…etc…).

Vermutlich werden sich die Fragen nach und nach erübrigen, wenn ich Schritt für Schritt kontinuierlich arbeite, mein Wissen erweitere und Erfahrungen sammle; (auf der anderen Seite kann man nur dann sinnvoll einen Schritt nach dem anderen setzen, wenn man weiß in welche Richtung man gehen soll.)

Es tut mir leid, daß ich Deiner überaus reichen Auflistung (die ich übrigens mit Eifer befolge) nichts Praktisches beisteuern kann und wenn ich Dir das jetzt alles schreibe, dann vor allem, um Dir zu zeigen, daß ich die drei Tage nicht untätig verstreichen ließ.

Nochmals vielen Dank!

Herzliche Grüße

Wien, am 10.1.98“

© Gerda Struhal, 1998