Werkeinführung Solorezital Carinthischer Sommer 2015
veröffentlicht am 31. Juli 2015/Programmheft Carinthischer Sommer 2015
Johann Sebastian Bach
Als Johann Sebastian Bach sich um die höchst angesehene Stelle des Thomaskantors in Leipzig bewarb, sollte er auch seine pädagogischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Also reichte Bach 1722/23 u. a. die 24 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers Band I ein, die anschaulich darstellen sollten, in welcher Weise er herangehende Musiker in der Kunst der Komposition und des Instrumentalspiels schulen würde. Die großartige Neuerung dieser Werksammlung war, daß sie jeweils ein Präludium und eine Fuge in jeweils einer der vierundzwanzig Dur- und Molltonarten, in chromatisch aufsteigender Ordnung, vorweisen konnte. Daß der Umgang mit Tonarten zuvor beschränkt war, lag an den damals üblichen Instrumentenstimmungen, „Temperierungen“, die den Tonarten durch unregelmäßige Intervallabstände – welche für uns, die wir heute die gleichschwebende Stimmung gewohnt sind, ‚verstimmt‘ klingen – jeweils charakteristische Farben gaben. Bach konnte damals auf eine neuartige Stimmung, von ihrem Erfinder Werckmeister „Wohltemperierte Stimmung“ genannt, zurückgreifen. Indem er jeder Fuge im strengen Kontrapunkt ein quasi improvisatorisches Präludium im freien Satz voranstellte, lotete Bach das Tonmaterial, das er verwendete, aus. Bach hob durch seine Experimentierfreude und kompositorische Neugierde im Wohltemperierten Klavier I und II nicht nur die kontrapunktische Technik auf ein neues Niveau, er setzte auch für das instrumentale Spiel zukunftsweisende Herausforderungen. Inhaltlich unterscheiden sich die sechs programmierten Präludien und Fugen auch entsprechend des Charakters ihrer Tonart. So setzte Bach z. B. der fünfstimmigen Fuge in cis-Moll, die in ihrer Anlage als Tripelfuge bezeichnet werden kann (drei Themen bestimmen den Verlauf), ein Thema voran, das durch seine Intervallstruktur symbolisch das Kreuz Christi beschreibt. Und die festliche vierstimmige Fuge in Es-Dur setzt er im „stile antico“. Diese könnte übrigens Beethoven für seinen Kanon in der Durchführung des ersten Satzes der Sonate op. 106 im Ohr gehabt haben. Bereits vom elfjährigen Beethoven wird überliefert, daß er große Teile des Wohltemperierten Klaviers beherrschte. Später hält Beethovens Schüler, der Klavierpädagoge Carl Czerny, fest, daß Beethovens Spiel der Fugen Bachs einzigartig gewesen sei.
Ernst Krenek
Ernst Kreneks Zweite Sonate op. 59 von 1928 führt uns in eine musikalische Welt, in der die Tonalität, die Bach so kunstvoll erschlossen hatte, nicht mehr Basis der Komposition ist. Krenek, 1900 geboren, im Wesen forsch und selbstbewußt, nimmt in den Zwanzigerjahren u. a. in Wien, Deutschland und Paris alle kompositorischen Möglichkeiten, die ihn umgeben (u. a. Atonalität, Zwölftontechnik…), wahr und läßt sie in sein Werk einfließen. So wird er 1927 durch seine vom Jazz inspirierte Oper Jonny spielt auf weithin berühmt. In den dreißiger Jahren brachte ihm dasselbe Werk von den Nationalsozialisten eine Eintragung in die Liste der entarteten Künstler, er wurde mit Aufführungsverbot belegt und in die Emigration getrieben. Zur „neoromantischen“ Zweiten Sonate meint Krenek selbst: „[…] In der Sonate versuchte ich mich an der Wiederbelebung und Umformung einiger eher Schubertscher Wendungen, wie zum Beispiel im zweiten Satz der deutliche Übergang von schnellem zu langsamem Tempo, während der Grundschlag der gleiche bleibt […]. Der Stil der Sonate ist eine ziemlich verwirrende Mischung aus Schubert, Chopin, Tschaikowsky (das spritzige zweite Thema meines Finales erinnert mich immer an die schwungvollen Gesten im Scherzo der Symphonie Pathétique) und Schumann (das dritte Thema des Finales). Insofern erinnert meine Sonate vielleicht an eines der surrealistischen Montageverfahren Strawinskys, aber die Absicht war eine andere, da ich nicht ironisch oder komisch sein wollte“ (aus Kreneks Autobiographie Im Atem der Zeit).
Ludwig van Beethoven
Ludwig van Beethoven komponierte die Sonate op. 106 von 1817 bis 1818 in schwierigen Umständen. So schrieb er am 16. April 1819 an seinen ehemaligen Schüler, den in London lebenden Ferdinand Ries, dem er diese Sonate zur Veröffentlichung in Großbritannien ans Herz legte: „Verzeihen Sie die Konfusionen. Wenn Sie meine Lage kennten, würden Sie sich nicht darüber wundern, vielmehr über das, was ich hierbei noch leiste.“ Drei Tage später, erneut an Ries, führte Beethoven weiter aus: „Die Sonate ist in drangvollen Umständen geschrieben; denn es ist hart, um des Brotes willen zu schreiben; so weit habe ich es nun gebracht!“ Der unverheiratete, kinderlose Beethoven war nach dem Tod seines Bruders Caspar Carl 1815 in einen jahrelangen, zermürbenden und finanziell aufwendigen Sorgerechtsstreit um seinen damals neunjährigen Neffen Karl mit dessen Mutter verwickelt. Und seine weit fortgeschrittene Ertaubung, die eine Kommunikation mit der Außenwelt in vielerlei Hinsicht auf den Schriftverkehr reduzierte, erschwerte seine Lage zusätzlich. So gibt es ab 1818 die „Konversationshefte“, die Alltagskommunikation mit Bediensteten und Freunden dokumentieren.
Wenn wir also diese Umstände betrachten, erscheint umso beeindruckender, mit welcher Kraft Beethoven die Sonate op. 106, seine mit Abstand größte Klaviersonate, zum Leben erweckte. Es fällt schwer zu glauben, daß sie eine kompositorische Krisenzeit Beethovens beendete, als ihm fehlende Produktivität zu schaffen machte. Der erste Satz eröffnet mit einem prächtigen, sich über alle Register des Flügels erhebenden, fanfarenartigen Ausruf, der einer Skizze Beethovens zufolge ursprünglich für eine Huldigungs-Kantate Vivat, vivat Rudolfus (Uhde) gedacht war. Die Kantate wurde nicht realisiert, die Sonate op. 106 fand jedoch in Erzherzog Rudolph, dem Schüler und Gönner Beethovens, ihren Widmungsträger. Dieses Rufmotiv in strahlendem B-Dur ist gleichermaßen Motto wie Kopfteil des großangelegten Allegro-Hauptthemas, das nach kurzem Innehalten die Antithese des mächtigen Signalrufes bringt, einen sanglichen, harmonisch starken Wandlungen unterliegenden Melodieabschnitt. Dieser bereitet den Aufschwung vor, der in registerübergreifende Akkorde mündet – sie bringen das Hauptthema zu Ende. Allein an der Großartigkeit dieses Hauptgedankens läßt sich die enorme Anlage der Sonate erahnen. Selten findet man ein Thema, das ein Werk derart jubilierend, von freudiger Energie erfüllt anstimmt.
In diesem Satz, ja, der ganzen Sonate, benötigt jeder thematische Gedanke Raum, wird von verschiedenen Perspektiven beleuchtet, oft orchestral durch die Register des Flügels geführt und pianistisch detailliert ausgearbeitet.
Im Gegensatz zum breit angelegten ersten Satz bekommt man das skurril anmutende Scherzo (Assai vivace) kaum zu fassen. Es scheint dem Hörer in der raschen Abfolge an Ideen und kleinräumigem Geschehen immer entschlüpfen zu wollen, während es mit diversen Überraschungsmomenten gehaltvoll, doppelbödig und auch grotesk vorüberzieht. Wenige Takte vor Schluß kulminiert es in der dramatischen, kahlen Konfrontation von h zu B, bevor es sich, B vorziehend, unauffällig verflüchtigt.
Das nachfolgende Adagio sostenuto, mit der Spielanweisung „Appassionato e con molto sentimento“, führt uns für etwa fünfzehn Minuten weit weg, in eine fis-Moll-Gegenwelt, die, so vermeint man, inhaltlich ein ganz eigenes, reiches musikalisches Leben in all seinem Schicksal umspannt; bei genauerer Betrachtung ist eine motivische Verwandtschaft mit den übrigen Sätzen unverkennbar.
Um aus diesem Adagio in die im gleichen Maße feurig rasante, bewegungsreiche und vor allem monumentale Fuge in B-Dur überzuleiten, setzt Beethoven der Fuge eine Largo voran, das quasi präludierend, improvisierend, den Weg zurück sucht und findet.
Carl Czerny empfiehlt den Interpreten als Vorbereitung für diese Fuge das Studium der Fugen von Bach. Tatsächlich folgt Beethovens „Fuga a tre voci, con alcune licenze“ spieltechnisch und kompositorisch neuen Voraussetzungen und bringt mit dem in das Fugenthema eingearbeiteten Triller, der inhaltlich mit einem dekorativen Ornament gar nichts mehr gemein hat, ein strukturstiftendes Movens hinein, das Quell von Energie, Antrieb und Verdichtung ist.
Gerda Struhal
© Carinthischer Sommer 2015