Gedanken zu Thomas Bernhard, ein Reisebericht

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Dieser Blogpost basiert auf meiner Leseleidenschaft, die immer auch mit der Musik zu tun hat. (Alles hat bei mir mit Musik zu tun.)

Besuch in Obernathal.

Ortseinfahrt Obernathal, dann mit dem Auto scharf links und man ist da: Obernathal zwei, eine der ehemaligen Anschriften von Thomas Bernhard. Wenn man das notariell versiegelte Tagebuch von Ignaz Hennetmair gelesen hat, erfährt man, dass das Haus mit Anschrift Obernathal zwei die Hauptanschrift Bernhards war und das erste Haus, das Bernhard kaufte. Ich bin ganz offensichtlich die einzige Besucherin: das Wetter ist abscheulich, es regnet in Strömen, es ist kalt, es ist der zehnte August. Zum Vortag gab es einen Temperatursturz von etwa vierzehn Grad ausgehend von zweiunddreißig Grad im Schatten. Hier in Obernathal ist es unwirtlich. Auch finden an diesem zehnten August keinerlei Führungen im Bernhard Haus statt. Führungen gibt es ausschließlich an Wochenenden und Feiertagen ab vierzehn Uhr. Das Haus ist also geschlossen. Insofern hätte ich mir die Frage stellen können, was führt mich dennoch just an jenem Freitag dem zehnten August nach Obernathal?

Thomas Bernhard hat Hausbesichtigungen für Hauskäufe ausschließlich bei schlechtem Wetter empfohlen, je schlechter desto besser. So hatte er sich den Hof Obernathal zwei von Ignaz Hennetmair Mitte der neunzehnsechziger Jahre bei nebligem, feuchtem, kaltem Winterwetter vorführen lassen und sich genau in dieser Wettersituation zum Kauf des renovierungsbedürftigen Bauernhofes entschieden, um ihn dann jahrelang Schritt für Schritt wohnlich zu machen. In Bernhards Pass stand als Berufsbezeichnung dementsprechend „Landwirt“. Bernhards Ansatz, zumindest was Wetter und Hausbesichtigungen betrifft, überzeugt mich. Ich mache es ihm nach und sehe mir sein Haus bei Regen an, auch wenn weniger das schlechte Wetter als die zufällige geographische Nähe Anlass zur Fahrt nach Obernathal gab.

Der Vierkanthof ist eindrucksvoll, sehr ausladend und auch in gutem baulichem Zustand, wie es den Anschein hat. Ich finde die Lage jedoch überraschend eng an den Nachbarhäusern und verhältnismäßig eng an der Westautobahn. Den Verkehr der stark frequentierten Autobahn kann man von Bernhards Haus stetig hören und, wenn man will, auch sehen. Immerhin an zwei Hausseiten des Vierkanthofes hat man eine weite Aussicht in eine nahezu unverbaute Landschaft, bei meinem Besuch nebelverhangen: ich nehme eine ausgedehnte leicht abfallende Wiesen- oder Ackerfläche vor einem Waldansatz wahr. Es gibt keine dramatischen Landformationen, keine schroffen Hänge, keine Felsgebirge.

Die vier Seiten des Hofes gehe ich rundum ab, keine ist wie die andere. Zum einen gibt die Rückseite des Vierkanters durch die nackten roten Ziegelsteinen mit großen Scheunentoren den Anschein eines Rohbaus, zum anderen stehen lackierte Bänke, gleichfarbig lackierte Fensterläden und sauber weiß verputzte Mauern an der nächsten Hausseite für eine gewissermaßen schmucke Fassade. Die Gitterstäbe vor den gedrungenen Fenstern sind geputzt und poliert. Streng ist das Haus, keinerlei Stuck, dicke Mauern, kleine, eben teilweise vergitterte Fenster, kokett streng, immerhin nannte Bernhard den Hof, in dem er wohnte und arbeitete, seinen „Kerker“ (siehe Thomas Bernhards Text, 1965, “Meine eigene Einsamkeit”). Womöglich reicht die Doppelbödigkeit über die wahrnehmbaren zwei Stockwerke hinaus.

Menschen suchen sich die Häuser, die zu ihnen passen, oder die sie sich eben leisten können, wenn sie dringend eines brauchen. Bernhard nahm, wenn man seinen ausgedehnten Briefwechsel mit Siegfried Unseld in Betracht zieht, wenig Rücksicht auf die Leistbarkeit eines Hauses. Ganz im Gegenteil, er kaufte sich Häuser, die er sich nicht unmittelbar leisten konnte, um schreiben zu müssen. Er schrieb also gleichsam dem Wert der Häuser hinterher, um die Häuser abzuzahlen. Später wurde ihm das Geld vom Verleger vorgestreckt, da dieser schon darauf vertrauen konnte, dass Bernhard Geld (und damit Haus) wieder herein-schrieb. Und seine Geldgeber hatten wohl auch verstanden, dass er die Häuser brauchte, um sich am Schreiben zu halten. Für Bernhard waren seine Häuser sein Schreibgrund.

Dennoch würde ich keineswegs so weit gehen zu denken, „er kaufte, also schrieb er“, eher noch, „er ging, also dachte er“, im Wissen, dass eine Reduktion von Bernhards Arbeitsweise, seiner Existenzweise, auf Descartesvariationen das ballaststoffarme Fastfood des Verstehens ist. Es gibt beim Gehen Abkürzungen, nicht beim Verstehen. Und wenn man, wie Bernhard, Gehen mit Denken verknüpft, denkt man über Abkürzungen beim Gehen auch nach.

Bernhards Zwetschkenbaum vorne links neben dem Eingang ist zum Brechen voll. Es hat ihn jemand mit einem Brett gestützt. Andernfalls hätte der Baum unter der Last der Zwetschken keine Chance, zu bestehen. Die Zwetschken sind schon violett gefärbt, jedoch, Fehlanzeige, sie sind an diesem zehnten August hart und entsetzlich sauer. Womöglich wurde der Zwetschkenbaum auch erst nach Bernhards Tod gesetzt, immerhin ist Bernhard seit über neunundzwanzig Jahren tot. Von der Größe des Baumes her ging sich das in neunundzwanzig Jahren aus, denke ich. Ich könnte sehr schnell recherchieren, ob der Baum der Baum Bernhards ist oder nicht. Das Ergebnis ist jedoch nebensächlich. Dass jemand sich sein Haus und damit seinen Alltag ansehen kommt, hat Bernhard zu Lebzeiten, so habe ich derartige Berichte verstanden, zutiefst verabscheut. Nun, da das Haus nach seinem Tod zum Museum gemacht wurde, kommen an Wochenenden und Feiertagen unzählige Menschen, denen das Bernhard Haus Schauraum für Thomas Bernhard bietet. Bernhards Häuser zählen zu seiner Geisteswelt, seinem Geisteswerk, und ein Werk führt doch irgendwann auch ein Eigenleben, oder nicht?

Das Bernhard Lesen kam bei mir erst nach dem Bernhard Tod und begann mit dem „Untergeher“. Mein hoch virtuoser und ebenso belesener Kollege Sergio Tiempo hatte mich in den neunzehnneunziger Jahren nach meiner Meinung zu diesem Buch und zu Bernhard im allgemeinen gefragt, da er annahm, dass ich als Österreicherin, als Wienerin, selbstredend mit dem Werk von Bernhard generell und diesem Buch im speziellen eingehend vertraut sei. Der in Brüssel lebende Sergio hatte Bernhard in Brüssel faszinierend gefunden und mich in Wien zum Bernhard Lesen gebracht. Daraufhin ging es mit mir und Bernhard bergauf. Ich war zeitweise eine ausdauernde Bernhardleserin. Bernhard brachte mich auch zum Lachen, mit „Alte Meister“ zum Beispiel. Seine Heidegger Paraphrase fand ich damals, vor vielen Jahren, glänzend und urkomisch, so sehr, dass ich in der Straßenbahn beim Lesen auflachte und es erst merkte, als ich die Blicke der Mitfahrenden auf mir spürte und aufblickte. Manche von Bernhards Büchern habe ich zwei oder drei Mal gelesen, manche nicht einmal einmal ganz oder eben gar nicht. Ich suchte bei Bernhard nicht die Vollständigkeit und auch nicht den Zusammenhang. Seine ersten Sätze sind eine Wucht und ebenso der Sog, den sie bei einem Buch entfalten und dem man im besten Falle bis zum Ende nicht mehr auskommt. Für mich sind die Einzelsätze von Bernhard oft ebenso aussagekräftig oder sogar aussagekräftiger als der gesamte Inhalt des jeweiligen Buches gebündelt und dennoch stehen die Sätze nicht allein sondern sind fest eingewoben in ein dichtes Ganzes. Man muss also nicht notwendigerweise das ganze Buch lesen, um gefesselt zu werden, rein geistig, naturgemäß.

„Der Untergeher“, 1983 veröffentlicht, war in seiner Frechheit grandios: gleich beide weltberühmten Klaviergenies Glenn Gould und Vladimir Horowitz als bewunderte Protagonisten ins persönliche Umfeld des Erzählers einzubetten und an ihnen das Scheitern und den Suizid der Figur Wertheimers  zu spiegeln, war gleichermaßen größenwahnsinnig wie raffiniert. Bernhards Spiel mit den Klavierlegenden Gould und Horowitz in der Fiktion bediente sich bewusst ihres jeweiligen realen Bekanntheitsgrades und künstlerischen Stellenwerts, soweit von Bernhard wahrgenommen, und nutzte sie zusätzlich als Sprachrohr Bernhard’scher Gedanken zu Österreich, zur Kunstauffassung und vielem mehr. Ich nahm den Roman zunächst tatsächlich ernst und wunderte mich, dass ich zuvor nie von einer persönlichen Bekanntschaft Goulds mit Horowitz gehört hatte, ganz zu schweigen davon, dass Horowitz in Salzburg an der Sommerakademie Gould (und eben andere) unterrichtet hätte. Bernhard hatte mich umgarnt und in die Falle gelockt: ungeheuerliche Neuigkeiten, die sich nach ganz wenig Recherche als historisch komplett falsch herausstellten, was weder die Kraft der Fiktion noch meine Lesefreude trübte. Solcherart war mein Eintritt in die Prosa Bernhards und in seine zum einen grenzenlose zum anderen genau kalkulierende Phantasie. Wenn man Bernhard gelesen hat, kennt man seinen Kosmos und seine Unverschämtheit. Letztere anzunehmen oder nicht anzunehmen ist eine Frage der Perspektive.

Also besuche ich das Bernhard Haus Obernathal zwei zumindest von außen, obwohl es ohne Bernhard die tote Haut einer Schlange nach der Häutung ist, zurückgelassen und dem Verfall preisgegeben. Alles lässt sich auch mumifizieren.

Ich schaue, soweit möglich, durch die Fenster ins Innere des Vierkanthofes. Dort nehme ich am Boden sehr breite, parallel verlegte Bretter in jenem Raum wahr, durch dessen Fenster ich schaue, im nächsten Raum dezente Verfliesung, weiters Mobiliar aus dunklem Massivholz, Biedermeier Fauteuils, Kachelöfen, klare, einfache Linien, strenge Gemütlichkeit, Bernhard hatte offensichtlich Stil und Geschmack auch bei der Einrichtung seines „Vierkantarbeitskerkers“, wie er den Hof 1965 nannte (siehe Text Thomas Bernhards “Meine eigene Einsamkeit”). Ich sehe während meines Besuchs keinen Menschen auf der Straße. Die Gegend wirkt auf mich ab der Ausfahrt Ohlsdorf menschenleer, auch wenn die wenigen Häuser des Ortes Obernathal offensichtlich bewohnt sind.

Es könnten auch Regen und Wind die Straße leergefegt haben.

Das, was mir vom Besuch des Bernhard Hauses außer anregenden dreißig Minuten Gedanken an Bernhards Texte, an seine Sprache und an mit Bernhard Lesen verbrachte Stunden, die bei mir viele Jahre zurückliegen, bleibt, ist, dass ich den „Untergeher“ aufschlage, sobald ich zuhause bin, und die ersten Sätze lese. Und da ist es wieder, das Thomas-Bernhard-Land meiner Lesevergangenheit. Ich stelle mir vor, wie Bernhard manche dieser Sätze im Haus in Obernathal aus der Luft gegriffen hat.

© Photos und Text Gerda Struhal, 2018