Interpretation, einige Gedanken zu Vortragszeichen bei Beethoven

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Gedanken zu Vortragszeichen bei Beethoven…

…Kommunikationsmedium mit uns Interpretinnen und Interpreten? fester Bestandteil des thematischen Materials?

„Musik genau Lesen, bedeutet nicht nur: Wahrnehmen, was niedergeschrieben ist (eine Aufgabe, deren Schwierigkeit fast immer unterschätzt wird); es bedeutet darüber hinaus: die Zeichen verstehen.“ Alfred Brendels Text „Nachtrag zur ‚Werktreue‘“ kann ich zu diesem Thema sehr empfehlen.

Vortragszeichen eines Komponisten im Notentext, auch Spielanweisungen genannt – egal ob es sich um dynamische oder agogische Anweisungen handelt, Angaben zur Artikulation oder Tempoangaben -, sind Vorgaben des Komponisten, der, im besten Falle, nicht nur genau weiß, wie das Werk zu klingen vermag, sondern auch den Willen aufbringt, das Werk aus fremden Händen nach eigenen Vorstellungen erklingen zu lassen.

Diese Zeichen geben uns Interpreten also vor, was zu tun ist und sind natürlich auch klar definiert: f, p, sf, dim., cresc., rit., legato, stacc., etc. Dennoch sind sie in ihrer Bedeutung gar nicht so einfach zu verstehen. Woran mag das liegen?

Jeder Interpret kann für sich einmal ein Experiment machen und einen Notentext so präparieren, dass er die diversen Vortragszeichen des Komponisten nicht mehr lesen kann. Das verändert den Notentext nachhaltig, auch wenn Tonhöhen und Tondauern unverändert bleiben.

Auch kennen viele von uns sicherlich jene Notenausgaben, die keine Urtextausgaben sind, also vom jeweiligen Herausgeber mit zusätzlichen Vortragszeichen (aus verschiedensten Gründen) ergänzt wurden. Es kann auch wirklich interessant sein, mal z.B. einige Blicke in die von Carl Czerny herausgegebene Ausgabe von Bachs “Wohltemperiertes Clavier” zu werfen, oder in die Ausgabe der Beethoven Sonaten von D’Albert, Schnabel, etc….

Ich beziehe mich in diesem Text ausschließlich auf jene Vortragszeichen, die vom Komponisten überliefert sind und uns dank hervorragend dokumentierter Urtextausgaben, wie bei Beethoven, zur Verfügung stehen.

Geht es Beethoven in all den Bemühungen um genaue und genaueste Kennzeichnung des musikalischen Ablaufs, auch durch Vortragszeichen, um unverrückbare Unterweisungen für mich als Interpretin? Also um das kommunikative Bedürfnis, anderen eine für ihn essentielle musikalische Vorstellung mitzuteilen und so gut wie möglich im Detail nachvollziehbar zu machen?

Wenn man sein Wesen, das von Zeitgenossen bisweilen als unberechenbar, auch unzugänglich und mürrisch beschrieben wurde, berücksichtigt, könnte man auch denken, dass es Beethoven womöglich gar nicht so sehr um die Anleitung der InterpretInnen als vorrangig um das eigene Festhalten des musikalischen Kosmos ging, der sich ihm eröffnete und an dem er sich durch Verfassen von unzähligen Skizzen über Skizzen abarbeiten musste, um ihn zu erschließen und in einen zusammenhängenden Fluss zu bringen? Und um diesen musikalischen Fluss seiner Vorstellungswelt zu strukturieren, dienten ihm auch detaillierte Vortragszeichen?

Dennoch gehe ich gleichermaßen von einer kommunikativen Komponente der Spielanweisungen aus.

In diesem Kontext fällt auf, dass die Skizzen keine oder wenige Vortragszeichen aufweisen. Das ist verständlich, Vortragszeichen wurden erst später hinzugefügt, wenn die Themen in Ablauf und Form ausgereift waren; ein Bildhauer macht sich auch erst, wenn die groben Formen stimmen, an die Feinmodellierung der Skulptur. Das lässt jedoch auch Schlüsse hinsichtlich des Stellenwerts der Vortragszeichen zu. Wir wissen aus Schilderungen seiner Zeitgenossen auch, wie vehement Beethoven selbst beim Dirigieren deren Umsetzung von den ausführenden Musikern einforderte (siehe Post Beethoven der Dirigent und Pianist nach Erinnerungen Louis Spohrs).

Insofern sind, wie zum Beispiel bei Beethoven, Vortragszeichen also keinerlei stereotype oder mechanische Angaben eines Komponisten, keine Äußerlichkeiten, die die Umrisse der Komposition und den musikalischen Fluss maßstabsgerecht nach Spannungshöhepunkten markieren, ein f gleich einem anderen f, ein sf gleich einem anderen und ein staccato gleich einem weiteren staccato, wie Zäune ein Grundstück oder Kanalwände einen Fluss regulieren. Unter den vielen verschiedenen Ebenen der Darstellung einer Komposition im Notentext sind die Vortragszeichen jene Angaben, bei denen der Komponist die Interpretin gewissermaßen an der Hand nimmt auf einen Weg, der InterpretInnen (und Hörer!) im Verlauf des Werkes an Besonderheiten heranführt, erwartete und unerwartete, und sie aufzeigt. Jedes einzelne pp, f, jede Fermate, jedes rit., jedes cresc. oder dim., jede Zweierbindung, etc stehen bei Beethoven zueinander in Beziehung, sind eine Besonderheit im zugrunde liegenden musikalischen Fluß und thematisch bedingt; sie suchen individuelle klangliche Umsetzung. Jedes Zeichen fordert im Verlauf eine Neuausrichtung, hinsichtlich harmonischen und motivischen Weiterentwicklungen oder Wiederholungen, die es beschreibt, ein. 

Daraus folgt konsequenterweise der Schluss, dass Vortragszeichen nur aus einem tiefen Verständnis der Schreibweise des Komponisten heraus sinnvoll im Kontext gelesen und interpretiert werden können. Beethoven schreibt z.B. nicht >, um einen Ton (oder eine Tonfolge) zu akzentuieren, sondern sf, oder rinf. oder sogar mal subito f oder ff  (z.B. 5. Symphonie 2. Satz, T29, Hervorhebung der enharmonischen Modulation nach C, ein kolossaler Moment, aus verschiedenen Gründen, hierzu eventuell einmal mehr an anderer Stelle). Schubert schreibt wiederum >, wobei der Akzent hier anders zu verstehen ist als ein sf bei Beethoven. Ein kleinräumiges Crescendo, auf das unmittelbar ein, dynamisch zurückgenommenes, p folgt, ist bei Beethoven im Rahmen einer Phrase durchaus gängig, eine Besonderheit, die man bei Mozart zum Beispiel nicht antrifft. Die Vortragszeichen eines Werkes Lesen und Verstehen, setzt voraus, dass man Eigenheiten des Komponisten in Schreib- und musikalischer Denkart kennt und zuordnen kann.

Ich möchte hier abschließend nochmals Alfred Brendel zu Wort kommen lassen: „Wir folgen Regeln, damit die Ausnahmen um so deutlicher sichtbar werden. Wir beziehen aus dem Buchstaben die Vision und sehen, zurückgewandt, den Buchstaben mit neuen Augen. Je genauer wir verstehen, um so größer soll das Staunen sein.“ Alfred Brendel, Nachtrag zur „Werktreue“.

© Gerda Struhal, 2018