Einführungstext Solorezital „JS Bach – F Chopin“

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Einführungstext Solorezital „JS Bach – F Chopin“

Zwischen Johann Sebastian Bachs Tod 1750 und Frédéric Chopins Geburt 1810 lagen sechzig Jahre, die geographische Distanz Leipzig – Żelazowa Wola und, neben vielen anderen Entwicklungen, auch die Handhabung unterschiedlicher Tasteninstrumente. Während der Großteil des „Wohltemperierten Klavier“ wohl für Cembalo oder Clavichord geschrieben wurde, komponierte Chopin bereits ausschließlich für das Hammerklavier. Auch darüberhinaus lagen in der Wahrnehmung des Pariser Publikums von 1833 ganze Welten zwischen den beiden Komponisten. Als der Wahlpariser Chopin, gemeinsam mit seinem Kollegen  Franz Liszt und dem Klaviervirtuosen Ferdinand von Hiller – alle drei waren große Bachadlaten – 1833 das Allegro von Bachs Konzert für drei Klaviere in d-Moll in Paris zur Aufführung brachte, hagelte es Kritik. Hector Berlioz schrieb in der Zeitschrift „La Rénovateur“ am 29. Dezember 1833  gar folgendermaßen über diese Aufführung: „Es  war erschütternd, ich beschwöre es, drei erstaunliche Talente gesehen zu haben, voller Energie, Jugend und Leben überbordend, die sich versammelten, um diese dumme und lächerliche Psalmodie aufzuführen […]“. Das kompositorische Schaffen von Johann Sebastian Bach wurde nicht geschätzt unter den Pariser Musikliebhabern und Musikern in den 1830er Jahren. Das lag daran, dass Bach schon zu seinen Lebzeiten mit dem Hang zur polyphonen Musik, nämlich den Fugenkompositionen, vielen als altmodisch galt, während den Musikhörern nach Modernem, nach Virtuosem, nach Melodischem, Eingängigem, Affekt- und Effektvollem war. Das lag auch daran, dass zu Mozarts und Beethovens Lebzeiten der Sohn Johann Sebastian Bachs, der Komponist, Cembalovirtuose und Pädagoge Carl Philipp Emanuel Bach jener hoch gerühmte Bach war, von dem alle annahmen, dass er adressiert sei, wenn man von „Bach“ sprach, und der eben ganz andere Musik komponierte als sein Vater. Johann Sebastian Bach war in der breiten Öffentlichkeit vollkommen in Vergessenheit geraten. Die von Deutschland ausgehende, durch Mendelssohn initiierte, Renaissance des Johann Sebastian Bach hatte in Paris zu dieser Zeit noch keinen Widerhall gefunden.

Manch Musiker kannte jedoch auch vor und zu Chopins Lebzeiten 1810-1849 Bachs „Wohltemperiertes Klavier“. Mozart (†1791) war durch Freiherr van Swieten an das Werk herangeführt worden und fasziniert davon. Von Beethoven (†1827) wird überliefert, dass er ein unübertroffener Interpret von Bachs Präludien und Fugen gewesen sei. Und Chopin sah in Johann Sebastian Bach ebenfalls den großen Meister, an dem er sich orientierte. Auch von Chopin ist dokumentiert, dass er das „Wohltemperierte Klavier“ spielte. Die Noten des Werkes nahm er auf jede Reise mit. Das Werk war ihm ständiger musikalischer Begleiter und kompositorischer Wegweiser. Für das heutige durch die historische Musizierpraxis geschulte Publikum wäre außerordentlich interessant, wie Chopin, der großartige Pianist, die Präludien und Fugen Bachs wohl spielte? Wie ging er damit stilistisch um? Wie handhabte er Artikulation, Tempo, Phrasierung? Wir wissen es nicht. Ein direkter Einfluss des “Wohltemperierten Klavier” auf Chopins Schaffen lässt sich an der Komposition des Zyklus 24 Préludes op. 28 ablesen: so wird jeder der 24 Tonarten ein Prélude zugeordnet. Bach folgt ebenfalls diesem Prinzip, wenn auch in anderer Anordnung. Bach arbeitet die Tonarten der Reihe nach chromatisch von unten aufsteigend ab, während Chopin, ebenfalls in C-Dur beginnend, im Quintenzirkel voranschreitet. Außerdem beschränkt sich Chopin auf die Form des Prélude, lässt es eigenständig und ohne nachfolgende Fuge stehen. In diesem Rezitalprogramm erklingt mit dem Des-Dur Prélude ein Auszug aus diesem Zyklus. Jedoch lässt sich wohl auch an Balladen, Scherzi und Mazurken  anhand der konsequenten Linienführung der verschiedenen Stimmen des Klaviersatzes und der genauen, dichten kompositorischen Arbeit hie und da das Vorbild Bachs ausmachen. Chopin ließ sich durchaus auch von anderen Komponisten inspirieren: so widmete er die zweite Ballade, die man sowohl in F-Dur als auch a-Moll stehend bezeichnen könnte, seinem gleichaltrigen Kollegen Robert Schumann. In den melodischen Kantilenen der Eckteile des b-Moll Scherzos hört man Chopins Liebe zu den Opern seines Freundes Vincenzo Bellini und sein Bemühen, den Belcanto auf das Klavier zu übertragen, heraus.

Nun besteht , wie eben beschrieben, eine tiefe Verbundenheit von Chopin zu Bach, nur, wie verhält es sich umgekehrt? Was verbindet Bach mit Chopin? Ist eine derartige Fragestellung sinnvoll bzw profitiert auch der Komponist Bach von einer solchen programmatischen Gegenüberstellung? Die Beantwortung dieser Frage scheint angesichts Bachs Todeszeitpunkt 60 Jahre vor Chopins Geburt eine vorrangig philosophische Herausforderung. Doch schon die Biographien lassen das eine oder andere Verbindende erkennen: beide sind große Virtuosen, beide gefragte Pädagogen, Bach als Thomaskantor an einer hoch angesehenen Institution in Leipzig, Chopin ein gesuchter Privatlehrer in Paris. Was an Bachs „Wohltemperiertem Klavier“, dessen erster Band spätestens 1722/23 vollendet wurde, neben vielem anderen wegweisend sein sollte, war die erstmalige Verwendung aller 24 Tonarten als Grundlage für Kompositionen, denen jeweils eine dieser 24 Tonarten zugeordnet wurde. Das war erst dank einer Instrumentenstimmung möglich, die auf Andreas Werckmeister zurückgeht, sinnvollerweise als „Wohltemperierte Stimmung“  bezeichnet wurde und die die Reinheit der Terzen zugunsten einer größeren Reinheit der Quinten kompromittierte. Zuvor war der Radius der auf den Stimmungsverhältnissen der mitteltönigen Stimmungen verfügbaren Tonarten – basierend auf möglichst reinen Terzen – sehr beschränkt.  Für Musikhörer, die an die heute gängige,  gleichschwebende Stimmung (alle Halbtöne sind genau gleich groß) gewöhnt sind, ist weder die zu Bachs und Chopins Zeiten geltende Tonartencharakteristik nachvollziehbar noch klingen mitteltönige oder wohltemperierte Stimmung für die heutigen Ohren ‚sauber‘.

Bach hatte also auf dem Gebiet der Entwicklung der Tonarten und der Aufbereitung sämtlicher Tonarten für das Komponieren einen bahnbrechenden Weg beschritten. Wenn man Chopins Sinn für Modulation nachspürt, sein Interesse an harmonischen, oft chromatischen, Fortschreitungen beobachtet, die immer als Farben eingesetzt werden und sowohl strukturell formendes als auch emotional prägendes Element einer psychologisch dramatischen Entwicklung seiner Werke sind, könnte man die Frage stellen, was hätte Chopin wohl gemacht, hätte Bach die Tonarten nicht derart vollkommen erschlossen? Hätte an Stelle Bachs ein anderer Komponist die Größe, den Weitblick und das Bedürfnis entwickelt, alle Tonarten zugänglich zu machen? Die Idee eines solchen umfassenden Zyklus, den die insgesamt 48 Präludien und Fugen des ersten und zweiten Bandes darstellen, die Bündelung aller gängigen Kompositionstechniken des freien Satzes (Präludium) und des strengen Kontrapunktes (Fuge), stellt eine zuvor nicht dagewesene, multidimensionale Leistung dar, an der in der Folge kaum ein Komponist ‚vorbeikam‘ bzw an der die Nachfolgenden auch gemessen wurden und sich maßen. Und man darf nicht vergessen, dass das „Wohltemperierte Klavier“ nur einen sehr kleinen Teil von Bachs immensem kompositorischem Schaffen darstellt. Auch wenn hier wiederum vorrangig eine Teilkomponente dieses Zyklus‘, die Erschließung der Tonarten, angesprochen wurde, lässt sich allein daran ablesen, wie groß Bachs Wirkung auf die Nachwelt war. Um die oben gestellte Frage zu beantworten: Bachs Werk profitiert insofern von dieser programmatischen Gegenüberstellung, als auch durch Chopins Werk hindurch, ohne in irgendeiner Weise Chopins Originalität und Qualität dadurch zu schmälern, ein Blick auf den großen Leipziger Meister geworfen werden kann, quasi wie durch ein Kaleidoskop, und die Größe und der Glanz einer solchen Komposition, wie sie das „Wohltemperierte Klavier“ darstellt, durch einen weiteren Mosaikstein, den der kritisch bewundernden, weiterführenden Rezeption, ergänzt wird.

© Gerda Struhal 2016

  Gerda   Posted in: News